“Gefährliche Orte?” – Die Rolle der (marburger) Polizei als Exekutive der Verdrängung

Der folgende Redebeitrag wurde am 25.03.23 auf der Nachttanzdemo des Bündnis “Marburg gegen Mietenwahnsinn” gehalten. Im Kontext aktueller (teils ekelhafter) Debatten in der Stadt über “Sicherheitspolitik” ist es wichtig eine andere Sichtweise zu ermöglichen, die nicht in eine autoritäre Forderung nach “mehr Polizei” umschwingt. Die selbsternannte “progressive” Stadtkoalition aus SPD, Grüne und Klimaliste trägt aber genau dazu bei. Das wird Konsequenzen haben. Es wird Zeit dem Racial Profiling in Marburg ein Ende zu setzen.

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Hallo liebe Freund:innen der Nacht,

in unserem Redebeitrag werden wir auf die Rolle der Polizei im Kontext der Verdrängung und Gentrifizierung eingehen.

Um es vorwegzunehmen: Wir sehen die Polizei nicht als Freund & Helfer, noch als Verteidiger der Demokratie an. Die Polizei ist in ihrer Kernfunktion die ausführende staatliche Gewalt. Eine „friedliche Polizei“ ist in diesem Sinne gar nicht möglich, da die Aufgabe der Polizei darin besteht Gewalt auszuüben. Es gibt keine „Polizeigewalt“ – Polizei ist Gewalt!

Die Geschichte der modernen Polizei ist verknüpft mit den Anfängen der Industrialisierung und somit der Herausbildung des Kapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kernaufgaben der Polizei in ihrer Anfangszeit in Europa bestand darin Arbeiter:innen und Verarmte zu kontrollieren, Aufstände zu bekämpfen, das Privateigentum zu schützen und den freien Warenverkehr zu garantieren. Hört sich vertraut an? Denken wir an Zwangsräumungen, Abschiebungen, Grenzpatroullien oder die Niederschlagung von Streikbewegungen wie aktuell in Frankreich – bis heute geht es darum, die herrschenden Verhältnisse von Staat, Nation, Kapital und Patriarchat aufrechtzuerhalten.

Die Geschichte der Polizei in den USA ist dagegen verknüpft mit der Geschichte der Sklaverei. Schwarze Menschen wurden unterdrückt, ihnen jegliche Freiheit genommen und sie bei Flucht oder Widerstand bestraft oder gar getötet.

Was hat also die Polizei mit Verdrängung und Gentrifizierung zu tun?

Ein Zitat von KOP (Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt) Berlin dazu:

Personen, die nicht in das Bild einer „ordentlichen, sauberen und einheitlichen Stadt“ passen, werden damit aus öffentlichen Räumen stückweise verdrängt. Damit ist racial profiling auch Bestandteil von Gentrifizierung. Gebiete, die für Immobilienspekulant*innen und Gewerbebetreibende bisher wenig rentabel sind, sollen attraktiv gemacht werden“.

Hierbei werden öffentliche Orte als „gefährliche Orte“ deklariert, um dadurch „anlasslos und angeblich verdachtsunabhängig“ kontrollieren zu können. Dass diese Orte oft von People of Color, Jugendlichen und armen Menschen aufgesucht werden ist, um sarkastisch zu bleiben, also nur „Zufall“. Racial und Social Profiling führen dann zu der gewünschten Verdrängung marginalisierter und diskriminierter Gruppen.

Von politischen Parteien und Polizeibehörden wird oft anhand von Statistiken argumentiert, dass die Deklarierung „gefährlicher Orte“ und somit nachfolgend die Durchführung „verdachtsunabhängiger Kontrollen“, erfolgreich seien. Denn es gibt zwei Resultate, die sich aufzeigen:

Es werden vermehrt Menschen an diesen Orten kontrolliert und festgenommen, da sie beispielsweise Drogen gefunden haben und/oder die Zahl an Festnahmen und Verfahren nehmen mit der Zeit ab.

Beides sollte nicht verwunderlich sein. Wenn die Polizei mehr kontrolliert, wird sie am Ende des Tages auch mehr finden. Und die Menschen meiden diese Orte, da sie wissen, dass diese als „gefährliche Orte“ gebrandmarkt sind oder sie selbst Opfer der Kriminalisierung werden.

Erneut zitieren wir KOP Berlin:

Kriminalität wird dadurch nicht unterbunden, sondern verlagert sich höchstens. Es gleicht einer selbsterfüllenden Prophezeiung, wenn die Polizei durch die Einstufung eines Ortes als „kriminalitätsbelastet“ dort mehr Präsenz zeigt und dadurch automatisch mehr Personen kontrolliert. Es ist die Vielzahl an Kontrollen, die einen Ort „gefährlich“ macht.

Wenden wir uns nun Marburg zu:

Am 19. Juni 2018 unterzeichnete die Stadt Marburg und die Polizei eine gemeinsame Vereinbarung für mehr Sicherheit und Aufenthaltsqualität in der Stadt. Dazu wurde eine Befragung in bestimmten Vierteln auf das subjektive Sicherheitsgefühl der Einwohner:innen durchgeführt und anschließend ausgewertet.. Beschlossen wurden folgende Maßnahmen an folgenden Orten: Verstärkte Polizeipräsenz, verdeckte Kontrollen, Aufenthaltsverbote, Präventionsarbeit, bauliche Verbesserungen und Videoüberwachung in der Oberstadt, dem Hauptbahnhof, den Lahnterassen und dem Marktdreieck.

Wir sind der Überzeugung, dass ein rassistischer Diskurs in Deutschland, und somit auch in Marburg, zu solchen Maßnahmen führte. 2015/2016 überquerten viele Geflüchtete die europäischen Grenzen, um überleben zu können. So nahmen viele Kommunen und Städte Geflüchtete in Camps und Lagern auf. Nach einer kurzen Phase der sogenannten „Willkommenskultur“ wandelte sich das Klima zu einem unsäglichen Rassismus: Rechte Bewegungen wie Pegida, AfD, Identitäre Bewegung und weiterer faschistischer Gruppen gingen auf die Straßen, griffen People of Color an und bestimmten den öffentlichen Diskurs. Das Märchen des „kriminellen und vergewaltigenden Ausländers“ kam auch im Mainstream an. In dieser Zeit verging keine Woche ohne einen Angriff auf Geflüchtetenunterkünfte.

Und auch in Marburg fand ein Diskurs um Sicherheit statt. Aufeinmal waren die Lahntreppen zu laut, zu gefährlich und zu dreckig. Auf einmal fühlte sich ein Teil der Bewohner:innen Marburgs „unsicher“. Unsicher vor Geflüchteten, unsicher vor People of Color, unsicher vor armen Menschen. Wir nennen die Unsicherheit der weißen, gut situierten Bevölkerung beim Namen – Es ist nichts anderes als Rassismus und Sozialchauvinismus.

Dass die Kriminalitätsrate in Marburg seit 2008 bis heute durchschnittlich über den Zeitraum hinweg abnahm wird dabei gar nicht beachtet oder in Betrachtung gezogen. Denn in Deutschland haben weiße Menschen die Deutungshoheit gegenüber migrantisierten Personen.

Doch wie sieht es heute aus?

In einem Artikel der Oberhessischen Presse vom 02. März fordert die SPD Marburg noch härtere Maßnahmen in Form von verstärkter Polizeipräsenz, Videoüberwachung und Kontrollen. Dass im Artikel selbst die mittelhessische Polizei weitere Videoüberwachung und Waffenverbotszonen infrage stellt, zeigt die Absurdität dieser Debatte auf. Es ist aber davon auszugehen, dass wir in Zukunft mit mehr polizeilichen Maßnahmen und somit auch Kriminalisierung und Verdrängung rechnen müssen.

Denn für die Stadt Marburg ist kein Platz für diejenigen da, die nicht in das Bild einer sauberen, ruhigen und schön-deutschen Stadt passen. Diejenigen, die als kriminell, laut und dreckig stigmatisiert werden – also People of Color, Sinti und Roma, sowie Obdach- und Wohnungslose, passen nicht in das von ihnen erwünschte Bild einer Stadt für Tourist:innen. Dafür werden diese Menschen aus dem öffentlichen Raum verdrängt, um Platz zu machen für diejenigen, die Kaufkraft verfügen.

Wir möchten anbringen, wo unserer Meinung nach die „gefährlichen Orte“ in Marburg sind. Dies ist zum Beispiel die Lutherstraße, wo es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Angriffen durch rechte Burschenschaftler kam; ohne rechtlichen Konsequenzen oder dass sich die Stadt Marburg dazu äußert. Wir reden von den Naziburschenschaften der Germania, Normannia und Rheinfranken, die weiterhin am Rande der Oberstadt ihre Menschenverachtung in Taten umsetzen können.

Es stimmt, die Gewalttaten in Marburg der letzten zwei Jahre sind erschreckend. Das Jugendliche homofeindlich motiviert Menschen angreifen und in einem Fall vom letzten Jahr dabei eine Person lebensgefährlich verletzen, ist verachtenswert. Am 31.03 findet um 9 Uhr morgens die letzte Kundgebung der Rosa Liste vor dem Landgericht Marburg statt. Kommt vorbei und zeigt euch solidarisch!

Autoritäre Maßnahmen in Form von mehr Polizei werden dem nicht abhelfen, sondern verschlimmern. Wir fordern den konsequenten Ausbau der sozialen Arbeit und die Schaffung sozialer, selbstverwalteter Räume für die marginalisierten dieser Gesellschaft. Es wird Zeit für ein soziales Zentrum in Marburg und die Schaffung von unabhängigen Jugendräumen!

Noch ein paar letzte Worte zu den hess(l)ischen Zuständen: Trotz der sogenannten rechten „Einzelfälle“ in der hessischen Polizei, der exzessiven Polizeigewalt bis zu Polizeimorden hat die schwarz-grüne Landesregierung Hessen diese Woche ein repressives hessisches Versammlungsgesetz durchgebracht. Statt Täterstrukturen aufzulösen, werden sie gestärkt und soziale Bewegungen im Gegenzug kriminalisiert. Ob in der Vergangenheit oder in der Zukunft: Wir demonstrieren wie wir wollen und lassen uns nicht kriminalisieren!

All Cats are Beautiful

Abolish the Police!