Die Bilder und Videos von fliehenden Menschen, explodierenden Raketen und zerstörten Gebäuden überfluten die Sozialen Medien. Der Krieg, der seit mehreren Wochen in der Ukraine tobt, wird von fast allen Seiten mit Bestürzung und Solidarität aufgenommen.
In der Realität ist freilich schon länger Krieg in der Ukraine. Schon seit 2014 kämpften das ukrainische Militär und prorussische Separatisten, die wohl auch seit 2014 von russischen Soldaten ohne Hoheitszeichen unterstützt wurden, in der Donbass-Region in der Ostukraine.
Das ist nicht das erste Mal, dass Putin aktiv aus geopolitischem Kalkül versucht, über Militärinterventionen an Macht zu gewinnen und dabei mit Despoten zusammenarbeitet und im Gegenzug deren Herrschaft sichert. Beispielhaft hierfür stehen der Krieg in Syrien, die Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg 2019 oder die Unterstützung Russlands in Kasachstan zur Niederschlagung der Revolten im Januar 2022.
Die imperialen Bestrebungen Russlands folgen einer nationalistischen Strategie zur Wiederherstellung des russischen Weltmachtstatus. Der Zusammenbruch der UdSSR 1991 wird heute in Russland häufig als traumatisches Ereignis verstanden, sowohl wegen dem darauf folgenden wirtschaftlichen Kollaps als auch wegen der territorialen Verkleinerung des eigenen Staates.
Putins Aussage „Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz. Wer sie sich zurückwünscht,keinen Verstand“ zeigt auf, wie Teile der Elite und Bevölkerung Russlands denken. Die aus dem Fall als Weltmacht hervorgebrachte Kränkung der nationalen russischen Identität spielt eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis des Landes. Mit der Wahl Putins 2000 und der Wiederwahl 2012 als Präsidenten der Russischen Föderation sollte sich alles verändern. Putin ist sich bewusst, dass Russland nicht auf eine wirtschaftliche Dominanz im Weltgeschehen setzen kann, sondern eine andere Strategie fahren muss, um gehört und gefürchtet zu werden. Die Lösung ist die der militärischen Interventionen und die der Kooperation mit Diktatoren, um Russland zu einer Weltmacht zu gestalten. Neu ist diese Strategie nicht, haben dies doch westliche Staaten wie Großbritannien, Frankreich und die USA, sowie Erdoğan in der Türkei seit Jahrzehnten gezeigt.
Spätkapitalismus, Krisenphänomene, Nationalismus und Gesamtscheiße
Neu ist aber, dass weltweite Krisenphänomene zunehmen, die sowohl die Menschheit als auch die Nationalstaaten in ihrer Existenz bedrängen. Insbesondere in den letzten zehn Jahren nahmen sich soziale, politische und nationale Bewegungen die Straßen, um gegen Missstände zu protestieren, teils mit dem Ziel Regierungen zu stürzen. Einige dieser Bewegungen sind diffus und bestanden aus unterschiedlichsten politischen Strömungen. Ob emanzipatorisch-linksradikale Perspektiven oder die Reaktionären die Deutungshoheit der Proteste erlangen, hängt vom Kräfteverhältnis ab.
Ein paar Beispiele: Der Arabische Frühling (2010), die Errichtung und Verteidigung Rojavas (ab 2016), der Putschversuch in der Türkei (2016), die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich (ab 2018), die Proteste in Hong Kong (2019), Chile (2019), Ecuador (2019), Bolivien (2019), Spanien (2019), Irak (2019), die Black Lives Matter-Bewegung nach der Ermordung von George Floyd (2020), die Proteste in Belarus (2020), Kämpfe in Myanmar (2021), Proteste in Sudan (2021), der Fall Afghanistans durch die Taliban (2021), die Proteste in Kasachstan (2022) etc.
Die bisherige Weltordnung in Form von bürgerlich-demokratischen Nationalstaaten bis hin zu Diktaturen ist am Wanken. Sie haben keine wirklichen Antworten auf die jetzigen und die kommenden Krisen: Weder vor einer bevorstehenden Wirtschaftskrise noch vor einer globalen Pandemie, noch vor dem Klimakollaps. Denn für die Lösung des Problems reichen nicht Reformen, sondern es braucht einen grundsätzlichen Systemwandel.
Die verbliebenen Großmächte und Diktaturen versuchen, ihre Existenz um jeden Preis zu sichern und befinden sich im Konkurrenzkampf untereinander. Überall zeigen sich Tendenzen der Entdemokratisierung, der Militarisierung und autoritärer Gesetzgebungen: Polizeieinheiten werden militärisch organisiert und mit modernem Equipment ausgestattet, gedeckt von restriktiven Polizeigesetzen. Grenzen werden geschlossen und Mauern gebaut.
Denn im Angesicht der Zeit der Krisenphänomene und aufkommenden Aufstände, in Kombination mit dem Ende der neoliberalen Ideologie (Margaret Thatcher „There is no such thing as society: there are individual men and women, and there are families“), müssen aus nationalstaatlicher Perspektive nationalistische Ideen als Staatsideologie erklärt und befördert werden. Es geht hierbei um eine Homogenisierung der Gesellschaft (Wer gehört dazu und wer nicht?), der Bindung des Großteils der Bevölkerung an das eigene System, sowie die Sicherung der eigenen Herrschaft.
Feindbilder werden von autoritären Staaten strategisch genutzt, um andere Staaten oder Bevölkerungsgruppen abzuwerten und zu dehumanisieren. Aus einer nationalistischen Ideologie heraus, in der die beschriebenen Feindbilder Teil der Ideologie sind, reicht es nicht nur aus, diese zu benennen, sondern es wird nötig gegen diese Feinde vorzugehen und letztendlich zu vernichten oder zu vertreiben.
Mit dem Sieg über den Feind soll auch die imaginierte homogene nationale Einheit gestärkt werden. Das Töten und das Sterben für das Vaterland beziehungsweise für das Kollektiv sind zentraler Bestandteil dieser reaktionären Ideologien.
Staaten, Bewegungen und Personen – Alle, die sich einer solchen Ideologie bedienen, sind keine Verbündeten im Kampf für die Emanzipation der Menschheit.
Es muss keine „Entweder-Oder“ Entscheidung sein, wenn beide Perspektiven und Seiten scheiße sind, auch wenn die eine Seite beschissener ist als die andere. Es gibt immer, wenn auch marginalisiert und isoliert, eine Stimme, für die es sich lohnt, zu kämpfen. Das können wir als Teil der radikalen Linken in Deutschland schreiben, weil unsere Existenz nicht gefährdet ist. Die Realität ukrainischer Genoss:innen ist aber aktuell eine andere:
„Wir halten Slogans wie »Nein zum Krieg« oder »Der Krieg der Imperien« für unwirksam und populistisch. Die anarchistische Bewegung hat keinen Einfluss auf den Prozess, daher ändern solche Aussagen überhaupt nichts. Unsere Position basiert auf der Tatsache, dass wir nicht weglaufen wollen, dass wir keine Geiseln sein wollen und dass wir nicht kampflos getötet werden wollen. Am Beispiel Afghanistans kann nachvollzogen werden, was »Nein zum Krieg« bedeutet: Als die Taliban vorrückten, flohen die Menschen massenhaft, starben im Chaos auf den Flughäfen, und die Zurückgebliebenen wurden verfolgt. Dies beschreibt, was auf der Krim geschieht, und mensch kann sich vorstellen, was nach dem Einmarsch Russlands in anderen Regionen der Ukraine geschehen wird.“ (1)
Krieg dem Krieg
Die Deutschen scheinen sich einig zu sein: Von der Bundesregierung, den Parteien, Unternehmen, Gruppen, Einzelpersonen: Alle wollen Frieden und niemand will Krieg. Wir finden es heuchlerisch: Von Frieden zu sprechen, aber durch Rüstungsexporte an autoritären Staaten Geld zu verdienen. Von Frieden zu sprechen, aber Geflüchtete an den Grenzen sterben zu lassen und abzuschieben. Von Frieden zu sprechen, aber bei menschenfeindlichen Handlungen von Despoten wie Erdoğan zu schweigen.
Auch wir sind prinzipiell gegen den Krieg und das Sterben. Nur sind wir keine Hippies und auch nicht naiv. In einer Welt voller Krieg und Gewalt von Frieden zu sprechen ist fernab jeglicher Realität. Es verklärt, dass Staat, Nation, Kapital und Patriarchat auf Gewalt aufgebaut sind. Und diese Form der Gewalt begegnet uns tagtäglich, ob direkt oder indirekt.
Es kann kein Frieden mit denjenigen geben, die menschenfeindliche Einstellungen haben und vor allem ausüben. Weder mit Nazis, Fundamentalist:innen, Antisemit:innen, Vergewaltigern und Patriarchen, und auch nicht mit Diktatoren. Diese Reaktionären, deren Weg über Leichen geht, müssen gestoppt werden. Da helfen kein Bittstellungen und keine Friedensappelle. Sondern die Verteidigung der eigenen Existenz und derjenigen, deren Existenzen bedroht werden.
Wir möchten hierbei klarstellen: Russland ist aktuell der Hauptaggressor. Die Nato, so beschissen sie auch ist, hält sich zurück. Es war die Entscheidung Putins, einen offenen Krieg anzufangen, Menschenleben zu zerstören, ganze Generationen zu traumatisieren und für geopolitische & nationalistische Strategien über Leichen zu gehen.
Unser Ziel ist eine Welt des Friedens, der Freiheit, des guten Lebens für Alle. Doch für die Emanzipation muss gekämpft werden gegen diejenigen, die humanistischen Idealen das Genick brechen.
Statt Frieden rufen wir Krieg dem Krieg.
Die Folgen
Die Folgen des Krieges sind nicht voraussehbar. Es ist unklar wie lange der Krieg andauern wird und unklar wie viele Menschen sterben werden.
Was klar ist: Unter dieser folgenreichen Entscheidung werden an erster Stelle die Menschen in der Ukraine leiden. Sie müssen sterben, ihr Zuhause verlieren und fliehen. Die Konsequenzen des Krieges wird aber auch die Zivilbevölkerung Russlands zu spüren bekommen. Die auferlegte wirtschaftliche Isolierung Russlands wird das Land hart treffen.
Die Nato wird wahrscheinlich gestärkt und vereint aus der Situation hervorgehen. Mit Sicherheit wird das Militärbudget in den Mitgliedsstaaten erhöht werden, eine Militarisierung der Gesellschaft könnte weiter voranschreiten und nationalistische Ideologien sich vermehrt in der Gesellschaft vorfinden.
Jeder Krieg hat negative Folgen für die kapitalistische Wirtschaft, sowohl auf die nationale als auch auf die globale (bis auf einzelne Bereiche wie der Rüstungsindustrie). Armutsverhältnisse werden zunehmen, auch in Deutschland. Abseits des Krieges steigt die Inflation weiterhin und führt zu Preiserhöhungen,unter anderem bemerkbar bei Produkten im Supermarkt. Die Verteuerungen im Bereich der Gaspreise dagegen können auf den Konflikt zurückgeführt werden. Zudem sind bestimmte Branchen vom Handel mit Russland abhängig. Durch die Embargos fällt der Warenverkehr weg, es kann zu Lieferengpässen kommen und Arbeitsplätze könnten dadurch verloren gehen.
Faschist:innen gehören bekämpft – egal wo, egal wann!
Die aus der Maidan-Revolution 2014 gestärkt hervorgegangenen militärisch gut organisierten faschistischen Gruppierungen, wie das Asow-Bataillon (2), werden die Situation auch für sich nutzen, um neben der Verteidigung des eigenen „Vaterlandes“ ihre Macht zu vergrößern, sofern sie nicht durch die russischen Truppen aufgerieben werden.
Auch auf Seiten Russlands kämpfen faschistische Kräfte. Die wohl bekannteste unter ihnen ist die sogenannte „Wagner Gruppe“ (3).
Deutsche Neonazis rufen vereinzelt dazu auf, in den Kampf zu ziehen. Es zeichnet sich eine Spaltung zwischen den verschiedenen Gruppierungen zur Frage der nationalen Solidarität mit Russland oder der Ukraine ab (4). Währenddessen könnten sich deutsche Nazis im militärischen Kampf erproben. Die Kenntnisse und Verbindungen könnten sie bei der Rückkehr für den angestrebten „Tag X“, also einem faschistischen Putsch, nutzen.
Solidarität statt Nationalismus
Die bekannte Frage der radikalen Linken bleibt „Was tun?“. Besonders bei Kriegen zwischen verschiedenen konkurrierenden Nationalstaaten machen sich Streits und Ratlosigkeit breit.
Wir als radikale Linke sollten uns in diesem Konflikt weder mit dem Hauptaggressor Putin, noch mit dem ukrainischen Nationalstaat solidarisieren oder in bürgerliche Rhetorik verfallen, sondern uns mit der ukrainischen Zivilgesellschaft und der russischen Friedensbewegung solidarisch zeigen.
Für den Frieden muss Putin verschwinden. Eigentlich führt kein Weg daran vorbei. Aus der Ferne können wir diejenigen unterstützen, die sich aus emanzipatorischen Gründen gegen das eigene Regime auflehnen und es zu Fall bringen wollen.
Insbesondere gehört unsere Solidarität den Geflüchteten des Krieges und den linksradikalen Genoss:innen, vordergründig Anarchist:innen in der Ukraine, da diese dort am ehesten eine progressive Position vertreten, die in all der Scheiße versuchen Fluchtwege zu ermöglichen, notwendige Bedürfnisse zu versorgen und im Zweifel zu den Waffen greifen.
Wir vergessen auch nicht die Kriegsdienstverweigerer beider Nationalstaaten. Niemand sollte gezwungen werden, zu kämpfen. Kriegsdienstverweigerung darf nicht bestraft werden.
Statt einer reinen Symbolpolitik und Worten sollen solidarische Handlungen folgen.
Wir rufen dazu auf, nicht nur Demos, Kundgebungen und Solifotos zu organisieren, sondern Solikampagnen und Strukturen aufzubauen. Herauszufinden, was die Leute vor Ort brauchen und Kontakt aufzunehmen zu linksradikalen Organisationen in der Ukraine und Russland.
Das bedeutet, Soli-Veranstaltungen zu organisieren, sinnvolle Sachspenden über die Grenze zu bringen, Infostände durchzuführen und Merch zu erstellen, um finanzielle Mittel an die Genoss:innen zu senden.
Sinnvoll erscheint uns auch die schon weit verbreitete realpolitische Forderung der Öffnung der Grenzen. Wichtig ist dabei, dass diese Forderung nicht nur für ukrainische Geflüchtete gelten darf. Es gilt solidarisch zu sein für alle Menschen auf der Flucht. Denn auch hier sehen wir die Heuchelei der Nationalstaaten. Polen baut eine komplette Grenzanlage auf und hat seitdem Geflüchtete in den sicheren Tod abgewiesen. Nun öffnen sie die Grenze für die Geflüchteten ukrainischer Staatsangehörigkeit, aber People of Color, besonders Schwarze Menschen, wurden an der Grenze zu Beginn vor gezogenem Gewehr aufgehalten zu fliehen. Mittlerweile wird meist auch diesen Menschen die Einreise in die EU ermöglicht, sie sind aber weiterhin systematischer Diskriminierung ausgesetzt.
Wir als Antifaschist:innen müssen uns weiterhin gegen jeden Rassismus stellen. Angriffe gegen russische Supermärkte, Restaurants etc. und Bedrohungen sind im Ergebnis Spielart des antislawischen Rassismus und niemals ein sinnvolles Mittel, um gegen den russischen Angriffskrieg zu protestieren!
In den nächsten Wochen werden wir versuchen, auf lokaler Ebene eine Solidaritätsstruktur aufzubauen. Gerne können sich Zusammenhänge daran beteiligen. Falls ihr als Gruppe oder Einzelperson eigene solidarische Aktionen plant und Geld sammelt, gebt uns gerne Bescheid. Gleiches gilt, wenn ihr weitere Kontakte zu linken Strukturen in der Ukraine oder Russland habt, die unterstützenswert sind.
Gehen wir es an, lasst uns nicht nur von Solidarität sprechen, sondern auch danach handeln!
Krieg dem Krieg! Solidarität statt Nationalismus!
Hier könnt ihr spenden:
- Anarchist Black Cross Dresden: https://abcdd.org/en/2022/02/24/support-anarchist-community-in-ukrain-during-war/
- Café Libertad – Fahnenflucht – Solidaritätsfond für Desertierende und soziale Bewegungen
https://www.cafe-libertad.de/fahnenflucht-support-desertion - FDA/IFA – Projekt Safehouse: https://fda-ifa.org/ukraine2022/
- Mission Lifeline: https://mission-lifeline.de/ukraine
- Rote Hilfe Wien – International Anti-War Solidarity: https://rotehilfe.wien/spendenaufruf-ukraine-russland/
- Unterstützung für Flüchtende: https://linktr.ee/operation.solidarity