Redebeitrag: Marburg gegen Mietenwahnsinn

Unser Redebeitrag zum Thema “Leerstand” auf der Demonstration “Marburg gegen Mietenwahnsinn” vom 20.06.2020.

Anmerkung der Katzen: Die Polizei begleitete die Demonstration mit einer übertriebenen Anzahl von Einsatzkräften (circa 15 Einsatzfahrzeuge), die sich strategisch an leerstehenden (ehemals kurzzeitig besetzten) Häusern und Prestige Objekten positionierten. Eure Machtdemonstration beeindruckt uns auf keinster Art und Weise.

Mietenwahnsinn, Gentrifizierung und Leerstand sind und waren schon immer ein Problem in Marburg. Diese Prozesse und Folgen müssen als ein Bestandteil kapitalistischer Verwertungslogiken betrachtet werden, in der es darum geht, in allen Lebensbereichen einen Profit zu erzielen, anstatt die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.

Gentrifizierung findet dabei nicht erst seit kurzem statt, sondern es ist ein historischer Prozess. Und ja, es stimmt, nicht in allen Stadtteilen sind Gentrifizierungsprozesse auffindbar. Doch sind in den letzten Jahren potenzielle Anfangsstadien der Gentrifizierung wiederzuerkennen. Wir kritisieren hierbei mit aller Härte die lokalen Parteien der CDU und FDP, die diese Prozesse nicht sehen wollen und sich aus ihrer Verantwortung entziehen.

Doch was ist Gentrifizierung überhaupt? Ich verwende folgende Definition des bekannten Stadtforschers Andrej Holm dafür:

“Gentrification ist jeder stadtteilbezogene Aufwertungsprozess, bei dem immobilienwirtschaftliche Strategien der Inwertsetzung und/oder der politischen Strategien der Aufwertung den Austausch der Bevölkerung für ihren Erfolg voraussetzen. Verdrängung ist das Wesen und kein ungewollter Nebeneffekt der Gentrification”

Bedeutet im Klartext: Die Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten und auch die Verdrängung von alternativen Projekten, die sich nicht auf Geldakkumulation fokussieren, sind Teil von Gentrifizierung.

Ich möchte gerne den Redebeitrag mit historischen Fakten belegen: In den 1970er Jahren brach eine Diskussion im marburger Stadtparlament aus. Es wurde folgender Vorschlag eingebracht: Von der Gutenbergstraße bis zum Südviertel eine Einkaufsmeile zu errichten. Es folgte daraufhin eine Kritik aus den Reihen der Oberstadt Kaufleute, die berechtigterweise schon damals Angst vor Konkurrenzverhältnissen mit großen Kettengeschäften hatte.

Im Übrigen: Schon in den 1970ern beklagten die Parteien, dass nur Studierende in der Oberstadt leben würden. Dies wird seither als Argument verwendet, um alleine Studierenden die Schuld an Gentrifizierung zu geben. Und ja, es mag stimmen, dass Studierende eine Mitschuld an Gentrifizierungsprozessen besitzen. Doch wenn wir uns die Situation in der Oberstadt genauer betrachten, ist dies von der Vermieter:innen Seite so gewollt. Denn Studierende lassen sich perfekt ausbeuten, da eine hohe Fluktuation stattfindet und diese sich in den wenigsten Fällen über die katastrophalen Wohnsituationen beschweren. Dadurch ist es einfacher ständig Mieterhöhungen durchzuführen. In der Oberstadt haben wir es aktuell somit nicht mit einer klassischen Gentrifizierung zu tun. 1. Es gibt keinen Austausch der Bevölkerung. 2. Es finden keine Sanierungen statt. 3. Die Oberstadt besteht aus Leerstand und ist für Geschäfte unattraktiv. Demgegenüber steigen die Mieten aber weiter an.

Doch wie kann man sich den Leerstand in der Oberstadt erklären? Abseits der einfachen Antworten, dass eine zu hohe Gewerbemiete existiert und heutzutage alle Menschen nur noch online einkaufen, muss ich auf die historische Stadtplanung verweisen. Diese verfolgt seit den 1970er Jahren folgenden Plan: In der Universitätsstraße und der Gutenbergstraße sollen Warenhäuser entstehen. Die Oberstadt soll aus Fachgeschäften und Einzelhandel bestehen. In den Straßen der Ketzerbach, Elisabethstraße und Bahnhofstraße sollen eine Mischung aus Kaufhäusern und Fachgeschäften vorzufinden sein. Wir hätten dadurch in Marburg eine Einkaufsmeile von 1,5 Kilometern vom Hauptbahnhof bis zur Gutenbergstraße.

1986 forderte die Stadt Marburg ein Gutachten vom Epplinger Institut für Fremdenverkehr und Kurberatung an, um das Stadtbild attraktiver zu gestalten. Eines der Kernpunkte des Gutachtens war die Modernisierung der Stadt durch Hotelbau. Dies ist der Grundbaustein der Beseitigung des Biegeneck Viertels. Das ist ein klassisches Beispiel für Gentrifizierung, die von der Stadt Marburg initiiert wurde.

Irgendwann beißen sich diese Prozesse selbst in den Schwanz. Dies bemerkte die Stadt Marburg anfang letzten Jahres am Leerstand von damals 13 Geschäften in der Oberstadt. In einem Interview beschweren sich die Einzelgeschäfte über zu hohe Mieten und einer verringerten Kaufkraft. Surprise! Man muss echt kein Diplom haben, um zu wissen, dass Einzelgeschäfte in Konkurrenz mit Kettengeschäften verlieren und dass wenn der Lohn stagniert, aber Lebenskosten und Mieten weiter ansteigen, auch die Kaufkraft verloren geht. Fazit: Der Leerstand in der Oberstadt lässt sich nicht mit einer Gentrifizierung in der Oberstadt erklären, aber mit Gentrifizierungsprozessen in den umliegenden Vierteln. Vor dem Bau der nun unbenannten und fertiggestellten “Marburg Mall” in der Universitätsstraße haben die Oberstadt Einzelgeschäfte eindringlich gewarnt. Diese schon aktuelle desolate Lage wird sich mit der Pandemie Situation und der “Marburg Mall” weiter drastisch verschlimmern.

Wie die Stadt Marburg mit Gentrifizierung, Mietenwahnsinn und Verdrängung umgeht, kann man ganz gut anhand des Leerstands in der Oberstadt betrachten. Sie fahren eine Imagekampagne, überkleben die leerstenden Räume mit Folie und haben noch den Skrupel, diese als “Freiräume” zu bezeichnen. Nur weil ein Gebäude über freie Räume verfügt, macht es diese nicht zu “Freiräumen”. Das ist logisch vielleicht richtig, aber eigentlich kompletter Schwachsinn. Und dann feiert sich diese Stadt für ihre “ach so tolle Idee”, gibt Interviews und freut sich, dass diese hässlichen Folien doch nur 10.000 Euro gekostet hätten. Ja, so geht die Stadt Marburg mit Problemen um. Etwas verschönern, bloß nicht über Gentrifizierung reden und auf keine Lösungsvorschläge eingehen.

Diese Prozesse führen zu einer optimalen Bedingung für Spekulation und krude Immobilienunternehmen, wie das sogenannte “Immobilien-Flipping Skandal” der letzten Jahre zeigte. Nicht nur das Havanna8 ist diesem zum Opfer gefallen, sondern eine Vielzahl an Familien, Wohngemeinschaften und Geschäften mussten ihr Leben und Wohnen aufgeben. Die beteiligten Personen des “Immobilien-Flipping-Skandals” wurden verurteilt, doch unserer Meinung nach viel zu milde. Die Luigs Real Estate kam mit einer Geldstrafe davon und besitzt weiterhin das “Erlenring Center”. Die wichtigere Frage ist: Was ist mit den Betroffenen geschehen? Wurde mit ihnen geredet? Wurden sie im Prozess eingebunden? Gab es irgendeine Art von Entschädigung oder Entschuldigung? Nein, die betroffenen Personen wurden ignoriert. Noch schlimmer: Die Stadt Marburg weigert sich aus diesem Skandal zu lernen.

Und so lange diese Stadt nichts unternimmt, werden wir protestieren! Wir fordern eine Milieuschutzsatzung in den Stadtgebieten der Oberstadt und Weidenhausen! Wir fordern den aktiven Gebrauch des Vorkaufrechts! Wir wollen, dass Leerstand nicht kaschiert, sondern problematisiert wird! Und wir kämpfen weiterhin für die Enteignung größerer Immobilienkonzerne und treten aktiv für selbstverwaltete Räume ein! Denn Mietenwahnsinn betrifft uns Alle, trotz aller Unterschiede. Nur gemeinsam können wir uns solidarisch dagegen wehren!