Alles wird schlecht – Ein Redebeitrag über die autoritäre Formierung

Am 09.10.23 gingen 800 Menschen auf die Straßen Marburgs, um gegen den Wahlerfolg der hessischen AfD und für eine solidarische Gesellschaft zu demonstrieren. Die Demonstration wurde vom Bündnis “Marburg gegen Rechts” organisiert. Folgender Redebeitrag konnte leider aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht abgespielt werden. Ein Dankeschön an die Orga und an die Vielzahl an Demonstrierenden!

Hallo liebe Mitstreiter:innen,

heute wollen wir nach den Wahlen in Hessen den Anlass nehmen, um grundsätzlicher über die autoritäre Formierung der Gesellschaft zu reden und zu erklären, was wir damit überhaupt meinen. Die AfD Wahlprognosen in Hessen liegen bei aktuell 15 Prozent. In anderen Bundesländern sieht es noch weitaus schlimmer aus: In Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ist die AfD laut Prognosen die stärkste Kraft. Und auch die jüngst herausgegebene Mitte-Studie der Friedrich Ebert Stiftung, die bis in die Mitte der Gesellschaft für einen großen Aufschrei gesorgt hat, zeigt schwarz auf weiß:

Rechtsextremes, menschenverachtendes Gedankengut und autoritäre Sehnsüchte sind nicht nur parteipolitisch, sondern gesamtgesellschaftlich auf drastischem Vormarsch. Rechtsextreme Einstellungen werden immer salonfähiger und das Sag- und Machbare verschiebt sich so immer weiter nach rechts.

Die Wahlerfolge der AfD werden diesen Trend deutlich befeuern: Sie werden dazu führen, dass rechte Akteur:innen sich bestätigt und noch sicherer fühlen, ihre Menschenverachtung nicht nur zu äußern, sondern in die Tat umzusetzen. So werden sie immer mehr Angsträume auf den Straßen und in der Öffentlichkeit schaffen, sodass sich jetzt schon viele Menschen, gerade gesellschaftlich marginalisierte, nicht mehr ohne Angst vor die Tür trauen.

Wie nun mit dieser Scheiße umgehen? Stimmen nach einem AfD-Verbot werden lauter und Reformen werden gefordert. Doch ist das wirklich die Lösung des Problems? Wir sagen nein. Denn diese Analyse geht nicht weit genug. Um das rasante Erstarken rechtsextremer und autoritärer Einstellungen zu verstehen, bedarf es einer umfassenden Analyse, die nicht erst bei den Parteien ansetzt, sondern beim Neoliberalismus und der Verfasstheit unserer Gesellschaft:  Nämlich der Verstrickung von Staat, Nation, Kapital und Patriarchat.

Das Gesellschaftssystem, in dem wir leben, basiert auf Konkurrenz und Ausbeutung. Ohne diese Mechanismen würde das System nicht funktionieren. Und der patriarchale Kapitalismus ist dabei widersprüchlich: Indem er zum einen Freiheit, Gleichheit und Teilhabe verspricht, zum anderen aber diese nicht einlösen kann, sondern aktiv Grenzen setzt. Denn in einer Gesellschaft, in welcher Menschen dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihr schieres Überleben zu sichern, kann es keine Selbstbestimmung geben. In einer solchen Gesellschaft bleiben Versprechen von Freiheit, Selbstverwirklichung und Gleichheit zwangsläufig leere Worthülsen. Denn der Kapitalismus ist und bleibt ein Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis.

Der Neoliberalismus hat es dabei geschafft, diese Verhältnisse zu verschleiern.  In dem er Menschen individualisiert, und ihnen glaubhaft macht, dass wirklich „alle ihres Glückes Schmied sind“, wird individuelle Verantwortung zum neuen Mantra. Margaret Thatchers Aussage „There is no such Thing as Society“ sagt schlussendlich aus, dass der Mensch auf sich alleine gestellt ist und jede:r um sein eigenes Überleben kämpfen muss.

Auf individueller Ebene heißt es somit: Selbstoptimierung, Ellenbogen-Mentalität und Egoismus.  Auf wirtschaftlicher Ebene heißt es Deregulierung der Märkte und die Privatisierung von ganzen Wirtschaftszweigen. Außerdem eine eklatante Sparpolitik in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Kultur und Soziales. 

Die Folgen des Neoliberalismus für uns als Menschen sind Einsamkeit und vom Leben ständig enttäuscht zu werden. Wir haben Angst vor der Zukunft und die wenigsten glauben daran, dass es mal besser wird. Und fast alle haben mit Depression zu kämpfen. Denn rosig sieht die Zukunft aktuell wirklich nicht aus: Klimakrise, Kriege, Wirtschaftskrisen, Perspektivlosigkeit. Alles scheint unaufhaltbar zu sein und die Kosten tragen diejenigen, die es am schlechtesten haben.

Neu ist, dass wir mit dem Klimawandel eine Krise haben, die existenziell die Menschheit als solche bedroht und wofür das System keine Lösung finden wird. Die Lösung würde nämlich miteinbringen, dass der Kapitalismus als Verursacher überwunden werden müsste. 

Die stetigen Krisen, die permanente Kränkung und die Individualisierung der Menschen in isolierte und einsame Wesen können dabei zu reaktionären Tendenzen führen. In einer immer komplexer werdenden Welt voller Unsicherheiten, suchen viele den Rückzug ins Altbekannte, eine Autorität, die ihnen sagt, wo es langgeht und ein Kollektiv, in dem man aufgehen kann, anstatt alleine zu sein. Genau daran knüpfen rechte AkteurInnen, wie auch die AfD, mit ihren falschen und zutiefst rassistischen Versprechen einer organischen Volksgemeinschaft an. Im nationalen Ich und der Rückbesinnung aufs ‚Deutsch-Sein‘ prophezeien sie die Lösung aller Probleme: Es soll dem Chaos im Leben Sinn und Ordnung verleihen.

Diese Ideologie des Deutsch-Seins ist zutiefst rassistisch, antisemitisch und antifeministisch: Sie baut auf der Feindbestimmung auf, wonach alles, was nicht Deutsch ist, isoliert, verdrängt und bekämpft werden müsse. Geflüchtete und MigrantInnen sind davon besonders betroffen. Die Autoritäre Sehnsucht nach organischer Einheit und dem „So wie es früher war“ richtet sich aber auch gegen jegliche emanzipatorischen Bewegungen: Auch sie gefährden den herbeifantasierten Zustand der Deutschen Volksgemeinschaft. Insbesondere queere und feministische Bewegungen und deren Errungenschaften sind dabei ein großes Hassobjekt der rechten Szene.

Gleichzeitig sind Antisemitismus und Verschwörungstheorien auf angsteinflößendem Vormarsch. Dabei muss fast immer der Jude als Sündenbock für die zahlreichen Krisen und das Elend der Welt herhalten – sei es als Strippenzieher, mächtige Elite oder Globalisten. Diese Suche nach Verantwortlichen, die sich im Juden personifiziert, verklärt schlussendlich die Verfasstheit des Kapitalismus.

In Zeiten der autoritären Formierung der Gesellschaft, wo sowohl der Staat als auch die Gesellschaft auf Krisen autoritär reagiert, gewinnen rechte Bewegungen und rechtes Gedankengut an Einfluss. Die Betonung eines gemeinsamen Kollektivs, die Negation des bestehenden demokratischen Systems und der Hass auf „die Elite“, den Liberalismus und alle, die für die Krisen verantwortlich gemacht werden, macht sie für viele in der Bevölkerung attraktiv. Dabei wird der Klassenkampf von oben nach unten fortgeführt, ohne dass dies bemerkt oder gesehen wird.

Und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die Gesellschaft und der Nationalstaat autoritärer werden, um mit den Krisen umgehen zu können. Alles andere wäre ein Eingeständnis, dass dieses System nicht optimal funktioniert. Dadurch werden autoritäre Maßnahmen und rechtes Gedankengut salonfähig. Der Nationalstaat bereitet sich auf die Folge der Klimakrisen autoritär, rassistisch und antifeministisch vor. Indem die Festung Europa massiv weiter ausgebaut wird. Indem die Polizei und das Militär mehr Handlungsmacht bekommt. Indem demokratische Errungenschaften abgebaut werden. 

Wir wollen mit dem Redebeitrag weder sagen, dass alles verloren ist, noch wollen wir rechtes Gedankengut und Wähler:innen rechter Parteien entschuldigen. Nein, Antifaschismus, auch militanter, bleibt notwendig. Uns fehlt innerhalb von Bewegungen eine Kritik am Ganzen und der Ausweg daraus.

Wir wünschten uns, wir könnten eine einfache Lösung bieten. Dem ist nicht so. Das einzige was für uns in Krisenzeiten verbleibt, ist sich nicht integrieren zu lassen, nicht die Radikalität und die Hoffnung trotz aller Trostlosigkeit zu verlieren. Und trotz allem auf die Straße zu gehen und für eine ganz andere Gesellschaft zu kämpfen, in der wir ohne Angst verschieden sein können. Solidarität zu zeigen und nicht nur zu predigen, ist das was wir machen können. Solidarisch zu sein mit denjenigen, die von der rechten Seite angegriffen werden, also solidarisch zu sein mit People of Color, Juden und Jüdinnen, Behinderten, Queers, Frauen, armen Menschen und Linken, ist wichtiger denn je.

Am Ende bleibt zu sagen: Nichts ist auf Stein gemeißelt! Alles lässt sich verändern! Eine bessere und solidarische Gesellschaft ist möglich! Also lasst uns dafür nicht nur heute, sondern mehr denn je, auch in der Zukunft  dafür kämpfen!